Glück:
so lautet das Halbjahresthema der E1. Nach den Vorgaben des Kultusministeriums hört sich das im Lehrplan folgendermaßen an:
Glück
Eudaimonistische Begründungen verantwortlichen Handelns
Dieser in die Oberstufenarbeit einführende Kurs thematisiert Voraussetzungen, Bedingungen und Inhalte gelingenden Lebens sowie die Probleme eigener Lebensentwürfe und deren Bezüge zur gesellschaftlichen Situation. Damit weisen seine Unterrichtsgegenstände zum einen eine inhaltliche Nähe zur biografischen Situation der Schülerinnen und Schüler am Beginn einer neuen Ausbildungsphase auf; zum anderen setzt die Frage nach dem Glück bei einer der grundlegenden Positionen antiker Philosophie an, der Auffassung nämlich, die Vollkommenheit menschlichen Lebens verwirkliche und konkretisiere sich in der sittlichen Gemeinschaft (der Polis).
Die antike und frühchristliche Moralphilosophie erörterte die Möglichkeit, ein höchstes Gut inhaltlich zu bestimmen: als Glückseligkeit, Freiheit, gelingendes oder gottgefälliges Leben. Ein geglückter Lebensvollzug verwirklichte sich aus dieser Perspektive im sittlich gestalteten Gemeinwesen. Seit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen können moderne Gesellschaften dagegen auf Zustimmung und Bestand nur dann rechnen, wenn auch Individuen mit unterschiedlichen Konzeptionen des Guten deren Prinzipien ihre Zustimmung nicht versagen können. Der klassische Leitgedanke, nach dem der Entwurf des „guten Lebens“ identisch sei mit der politischen Praxis des sittlich gerechtfertigten Gemeinwesens, hat einer Vorstellung Platz gemacht, in der die Tugend eines politischen Systems gerade darin liegt, dass es seine Mitglieder mit gleichen Rechten auf Freiheiten und soziale Grundgüter ausstattet, die den Entwurf je verschiedener eigener Lebensziele erst ermöglichen (Rechts- und Sozialstaatsgedanke).
Die Idee, individuelles Glück und gute gesellschaftliche Praxis miteinander zu vermitteln, wirkt jedoch weiter in den großen utopischen Ordnungsentwürfen. Sie entfalten das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen der Freiheit und der Gleichheit, das eines der entscheidenden Probleme bei der ethischen Bewertung gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellt.
Wenn sittliches Gemeinwesen und individueller Lebensentwurf nicht mehr in eins gesetzt werden, entsteht erst der Freiraum, der es dem Individuum ermöglicht, „nach seiner Façon selig zu werden“. In der modernen Gesellschaft wird der riskante Entwurf der eigenen Biografie zur Aufgabe jedes Einzelnen; die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz ist verwoben mit den privat gesetzten Präferenzen. Der Sozialstaatsgedanke federt das ökonomische Risiko der Freiheit dadurch ab, dass er durch die garantierte Bereitstellung der notwendigsten Güter die unabdingbaren äußeren Voraussetzungen für ein gelingendes Leben sichergestellt sehen will.
Nicht mehr bevormundet und in der persönlichen Würde beeinträchtigt zu werden, ist Ziel und wesentliche Bedingung des Rechtsstaates, der seinerseits den Rahmen setzt und die Grenzen angibt, innerhalb derer die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ohne die Verletzung der Freiheitsrechte und der sozialen Rechte anderer zulässig ist. Die konkrete Bestimmung dieses Rahmens wiederum ist ein (veränderliches) Ergebnis politischer Konsensfindung. Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 markiert einen nicht mehr zu unterschreitenden programmatischen Standard, der für die Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang besitzt.
Die Anerkennung des individuellen Rechts, auf unterschiedlichen Wegen und unter Nutzung unterschiedlicher Möglichkeiten Glück anzustreben, ist abzugrenzen von der Propagierung oder gar der 'Garantierung' von Wegen zum Glück. Denn diesseitige Glücks- und Paradiesversprechen enthalten sowohl Verheißung als auch Gefahr. Im Falle der Abhängigkeit von Drogen, die Momente des Glücks versprechen, kann die Gefahr tödlich werden. Im politischen Bereich sind es die totalitären Ideologien, die an die Stelle der individuellen Wahlfreiheit in der Gestaltung des individuellen Lebensentwurfes die Ausrichtung der gesellschaftlichen Ordnung auf das Ziel eines politisch erzwungenen Glückszustandes setzen wollen.
Im Zusammenhang mit den Glücksethiken bietet es sich an, die Schülerinnen und Schüler mit dem Utilitarismus als einer bis in die Gegenwart wirkungsmächtigen konsequenzialistischen Moralbegründung vertraut zu machen und damit die vor allem in Q2 vorgesehene Konfrontation mit der deontologischen Moralbegründung vorzubereiten: Die Bestimmung des „größtmöglichen Glückes der größten Zahl“ zum Kriterium moralischen Handelns im utilitaristischen Ansatz setzt (wie schon der antike Hedonismus) auf nicht weiter hinterfragbare, an die Erfahrung von Lust bzw. Unlust geknüpfte Motivationen menschlichen Handelns. Die Kantsche Position dagegen fasst die „Glückseligkeit“ als unbestimmten Begriff, der zur Bestimmung moralisch gebotenen Handelns nichts beitragen kann, und behauptet die Motivierbarkeit menschlichen Handelns aus reiner Pflicht, einzig des vernünftig Gebotenen wegen.
Das ist wohl alles klug und richtig. Ob es für einen 10. (G8) oder 11. Jahrgang (G9) eine angemessene Herangehensweise an das Thema ist, steht für mich auf einem anderen Blatt. Natürlich bin ich verpflichtet, die folgende Inhalte in den Unterricht einzubringen (wieder zitiert nach dem KM):
Der Markt der Sinn- und Verwirklichungsangebote; Privatisierung und Vermarktung der Glückserwartungen; geglückte Lebensentwürfe
• Glücksversprechen auf der Grundlage wachsender materieller, technischer und biologischer Möglichkeiten
• Alternative Lebensentwürfe: bewusster Verzicht; Leben im Einklang mit der Natur
• Vergnügen: jenseits von Gut und Böse?
• Narzissmus; Vorbilder, Fans und ihre Idole
• Sozialbezug des eigenen Lebens
• Hingabe; Ataraxie; Autarkie
• Streben nach Liebe, Erfolg, Reichtum, Besitz, Macht, Anerkennung, Sicherheit, Gesundheit, Ruhe
• Lust-/Unlustmotivation (Vermeidung von Unlust, Schmerzen, Ärger und Leid; Streben nach Lustgewinn, Erlebnis und Abwechslung, Spaß)
• Selbstverwirklichung
• Altruismus
• Eudaimonia (Aristoteles); Hedonismus (Epikur); Ethik der Stoa
• Utilitarismus; behavioristische, psychologische und
ökonomische Glückstheorien
• Unzufriedenheit als Herausforderung
• Pflicht contra Genuss
• Glückseligkeit als unbestimmter Begriff
• Umgang mit Glück, Leid, Tod, Schicksalsschlägen
Ich weiß nicht genau, inwieweit 16jährige an Ataraxie, Glückseligkeit und in extenso an antiken Glückstheorien interessiert sind und daran herangeführt werden müssen. Sehr klug finde ich den Vorschlag, sich mit der Vermarktung der Glückserwartungen zu beschäftigen, den Glücksversprechen und den Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe im gegenwärtigen, allmächtigen Kapitalismus und Konsumismus: was beides alles andere als „alternativlos“ ist, wie unsere derzeitige Bundeskanzlerin meint.